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WIR* - EINE GRENZERFAHRUNG
Schauspielhaus Graz, 2020/23
Beteiligte
Gründer*innen des Netzwerks | Franziska Betz und Nina Gühlstorff im Auftrag des Schauspielhauses Graz |
Ausstattung | Kathrin Frosch |
WIR* | Zahlreiche Institutionen der Stadt und in der Südsteiermark, über 100 Einzelpersonen, Mehr dazu: Bündnispartner*innen |
Wer oder was ist „WIR“? Eine Festung mit Graben? Ein weites Feld? Eine soziale Praxis? Das Wort ist in aller Munde und ebenso der Wunsch nach friedlicher Gemeinschaft. - Aber jedes „WIR“ erschafft gleichzeitig ein Anderes und fühlt sich oft nur deshalb so wohlig an, weil alles Konfliktpotenzial ausgeschlossen bleibt. Im Schauspielhaus Graz bekam das WIR ein Sternchen und wurde zur Grenzerfahrung eines Wir-Begriffs, der offener und größer werden muss.
WIR* - EINE GRENZERFAHRUNG
Die Projektreihe WIR* – EINE GRENZERFAHRUNG am Schauspielhaus Graz initiiert von Regisseurin Nina Gühlstorff und durchgeführt gemeinsam mit der Dramaturgin Franziska Betz, der Ausstatterin Kathrin Frosch, dem Theater im Bahnhof und vielen weiteren Akteur*innen der Stadt und der Region ging über drei Jahre von 2020 bis 2023. WIR* war „Grazwurzelbewegung“ und vernetzte das Schauspielhaus Graz mit den wichtigsten Akteur*innen in Sachen offene Gesellschaft der Steiermark.
WO IST DIE GRENZE?
Grenzen gibt es viele in der Grazer Stadtgesellschaft, aber ganz am Anfang von WIR* stand eine konkrete Auseindersetzung mit der nahen Staatsgrenze, besonders der Grenzstadt Spielfeld. WIR* lud Expert*innen aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus ins Schauspielhaus um Workshops zur Grenzpolitik zu halten und ihr Wissen zu teilen. Auf der anschließenden „Grenzenlosen Gala“ hat das Publikum über kontorverse Fragen österreichischer Migrationspolitik abgestimmt und diese Diskussion hat WIR* bei der Webinar-Reihe „Zeit für Debatten“ auch in Zeiten des Lockdowns weitergeführt. Gerald Knaus war zu Gast und Judith Kohlenberger, die das Konzept der „geordneten Rettung“ vorstellte sowie Nava Ebrahimi. WIR* gewann Bündnispartner*innen in der Stadtgesellschaft und lud zu umfangreichen Netzwerkstreffen, deren Teilnehmende ein Bedürfnis formulierten: auch die Institutionen der Stadt sollten sich vermehrt ihrer Grenzen bewusst werden, und stellten die Frage, wie die Öffnung der Institutionen vor Ort zu bewerkstelligen sei. Kurzerhand erklärte WIR* gemeinsam mit dem Theater im Bahnhof die Bühne des Schauspielhauses zu einem Stadtparlament und verhandelte dort die Fragen einer offenen Stadt. Währenddessen hielt WIR* Kontakt zwischen Graz und seiner nahen Grenze und hat zusammen mit dem Pavelhaus in Radkersburg eine theatrale Reise zur österreichisch-slowenischen Grenze veranstaltet. Auf dieser Reise erzählte der Historiker und Fotograf David Kranzelbinder von der wechselvollen Geschichte dieser Region und davon wie sehr die Begradigung des Flußlaufs der Mur die Erschaffung nationaler Identitäten versinnbildlicht und so von der Gewalt zeugt, die die Erfindung von Grenzen bedeutet. Kranzelbinders Fotografien machten einen Ort wie einen LKW-Rastplatz zu einem berührenden Errinnerungsort für die menschliche Tragödie hinter dem Konzept „Abschottung“. Petra Leschanz von Bordercrossing Spielfeld führte uns in den Wald. Oft sind die Bäume die einzigen Zeugen von Push-Backs durch die österreichischen Grenzer. Abends las die Autorin Natascha Gangl: „Wo ist die Grenze? Fragt mich der Besuch. Wir stehen im Garten meines Elternhauses in der Südoststeiermark. Die Frage schüttelt mich. In der ganzen Breite des Horizonts, den wir von hier aus überblicken, steht die Grenze – dass man das nicht sehen kann – weil man es nicht sehen kann – habe ich vergessen.“
WIR* - DISKURSIVE ARENA
WIR* hat sich also mitten rein begeben in die Fragen der Grenzregime, hat versucht, den kollektiven Erfahrungen von 2015 in Spielfeld im Schauspielhaus einen Platz zu geben und die Arbeit vieler Gruppierungen in Graz auf einer der größten Bühnen sichtbar gemacht. Um die Vielstimmigkeit unseres Netzwerks sichtbar zu machen entwickelten wir gemeinsam mit der Soziologin Karin Scaria-Braunstein eine Diskursive Arena, sechs Podien in mitten des Publikums im Kreis angeordnet und mit einer Live-Kamera begleitet, ermöglichen vielstimmigen, herrschaftsfreieren Wissenstransfer. Deutlich wurde, dass im Netzwerk Verbindungen und Vertrauen entstand, wenn man zusammen Veranstaltungen konzipiert und durchführt: Rohulla Borhani von der Katib-Farsi-Bibliothek war oft unser Gast er vertrat die Bedürfnisse migrantischer Kulturvereine, wir feierten dann im Gegenzug als Gast der Katib-Farsi-Bibliothek WIR*nachten im Theater im Lend. Mit Heidrun Primas vom Wochenende für Moria verbanden uns ähnliche Interessen und WIR* profitierte von ihrer Expertise Aktivismus mit den Mitteln der Performance zu verbinden. Birgit Johler vom Volkskundemuseum übernahm ein Story-Telling-Format, das im Rahmen von WIR* entstanden war für den Heimatsaal und so öffneten wir mehr Räume für unterrepäsentierte Geschichten. So war die Diskursive Arena nicht nur eine Veranstaltung, sondern Modell für die Arbeitsweise: Immer neue Allianzen und Bühnen finden für kritische Öffentlichkeit. So verband sich die Stadtgesellschaft mit Aktivist*innen und so konnte im Winter 2022, als wieder Menschen in Not an der Grenze ankamen das Schauspiel- Ensemble in kürzester Zeit 9000 Euro sammeln, die von den Helfenden sofort in warmes Essen umgesetzt wurden.
Diesen Grenzgang begleiete jahrelang ein Satz von der Politikwissenschaftlerin Wendy Brown nach der Mauern ein „angenehmes politisches Trostpflaster für eine ganze Reihe von über die Maßen schwierigen Problemen sind, für die es keine einfachen kurzfristigen Lösungen gibt“ und die feststellt, dass die Konjunktur nationaler Abschottung schlicht Theater sei. Theater, um entschlossenes Handeln zu simulieren, denn Mauern und Grenzzäune sind in Zeiten populistischer Politik scheinbar eine Demonstration der Stärke. Wir nahmen an, wenn die Politik Theater spielt, wäre es dann nicht Aufgabe der Kunst Politik zu machen?
GRAZ* – EINE STADT IM ZENTRUM EUROPAS
Oft hört man, dass Graz „so weit ab vom Schuss“ sei, gerade wenn man mit Kulturschaffenden spricht, die nicht nur den Anschluss an das Wiener Kunst- und Kulturleben nicht verpassen möchten, sondern auch den gesamten deutschsprachigen Raum im Blick behalten wollen. Aber in einem Europa ohne Grenzen liegt Graz nicht an der Peripherie sondern mittendrin. Leider fehlt im deutschsprachigen Raum oft das Bewusstsein, wie interessant die Nachbar*innen in Slowenien und weiter östlich sind. Auch die unentwegte populistische Politisierung der Grenze, die Grenzkontrollen weit über die Corona-Zeit hinaus, die gegen EU-Recht verstießen, die illegalen Push-Backs von Geflüchteten und die einem Land wie Österreich unwürdigen Bilder frierender Menschen auf der Flucht aus Spielfeld sprechen eine andere Sprache. WIR* wünscht sich: Graz soll mitten in Europas liegen.
WIR* – EINE PRAXIS MIT FOLGEN
WIR* ist seiner jetzigen Form mit der Intendanz von Iris Laufenberg zu Ende gegangen. Gemeinsam mit Weggefährtin Daniela Brasil schickte WIR* zur Abschlussfeier des Schauspielhauses eine Reihe fliegender Fische auf die Bühne. Kinder aus zwei sehr unterschiedlichen Schulen, der Projektschule und Triester Schule trugen diese Fische an Stäben, sie atmeten Luft und waren so für die Künstlerin Daniela Brazil auch Grenzgänger*innen .Vielsprachig forderten die Kinder und die Fische ihre Freiheit ein, setzen sich über die Grenzen des Möglichen hinweg und waren so ein fluides Denkmal. Sprung: Weggefährtin Irina Karamaković vom Migrant*innenbeirat veranstaltete beim Steierischen Herbst 2023 eine Veranstaltung, die Fragen von WIR* weiter entwickelte, obwohl WIR* schon zu Ende war. Sprung: Als letzten Akt hatten wir im Sommer 23 die großen, pinken WIR*-Buchstaben, die uns die ganze Zeit begleitet haben noch mal über die MUR* nach Slowenien gefahren und als MI*, dem slowenischen WIR* kamen sie zurück. Jetzt stehen sie im Garten vom Pavelhaus und ruhen sich aus. Vielleicht werden sie von Irina noch gebraucht oder von den fliegenden Fischen bei der Aushandlung ihrer Freiheit. Sicher ist nur das: Aushandlung wird gebraucht.
Sprung
WIR* dankt Euch allen.
Ihr habt uns die Welt gezeigt.
Sprung
WIR* bleibt.
Ein unsichtbares Monument der Verbindungen, Kommunikation und Wurzeln.